Eine zauberhafte Winterwelt voller bekannter Märchenfiguren, funkelnder Lichter und versteckter Geheimnisse. Hinter jedem Detail steckt eine kleine Geschichte vom gestiefelten Kater bis zu Schneewittchen.
In dieser Sammlung erwachen die Geschichten zum Leben, die im Wimmelbild versteckt sind. Bekannte Märchenfiguren erzählen hier ihre Abenteuer. Tauchen Sie in die Kisten ein, folgen Sie den Spuren und finden Sie heraus, wo sich die Märchenfiguren im Wimmelbild versteckt haben.
Der gestiefelte Kater
Ein Müller hatte drei Söhne. Als er starb, hinterließ er ihnen nur seine Mühle, seinen Esel und seinen Kater. Der älteste erhielt die Mühle, der zweite den Esel, und dem jüngsten blieb – zu seinem großen Kummer – nur der Kater.
„Meine Brüder können sich ehrlich ernähren“, sprach der Jüngste traurig, „aber was fang’ ich mit einem Kater an? Wenn ich ihn essen lasse und mir aus seinem Fell Handschuhe mache, ist alles, was ich besitze, dahin.“
Der Kater hörte das und sagte mit ernsthafter Stimme:
„Seid nur getrost, Herr. Lasst mir ein Paar Stiefel machen, damit ich durch die Felder gehen kann – dann werdet ihr bald sehen, dass ihr nicht so schlecht bedacht seid, wie ihr meint.“
Der Müllerssohn staunte, doch da er den Kater schon oft klug und gewitzt erlebt hatte, ließ er ihm Stiefel machen. Der Kater zog sie an, nahm einen Sack, füllte ihn mit Kleie und legte sich auf die Lauer. Bald fing er einen Hasen und brachte ihn mit höflichem Gruß dem König:
„Von meinem Herrn, dem Grafen von Carabas, Majestät.“
Der König freute sich über das Geschenk und ließ den Kater mit Dank entlohnen.
So tat es der Kater viele Male. Bald brachte er Rebhühner, bald junge Kaninchen – immer im Namen des geheimnisvollen „Grafen von Carabas“. Der König begann, seinen Herrn für einen reichen Edelmann zu halten.
Eines Tages erfuhr der Kater, dass der König mit seiner schönen Tochter an den Fluss fahren würde. Schnell riet er seinem Herrn:
„Geht zum Fluss und badet! Ich will für euer Glück sorgen.“
Kaum war der Müllerssohn im Wasser, kam der König heran. Der Kater rief laut:
„Hilfe! Der Graf von Carabas wird beraubt! Die Diebe haben seine Kleider gestohlen!“
Der König, der den Namen kannte, befahl, seinem vermeintlichen Freund neue Kleider zu bringen. In prächtigen Gewändern sah der Müllerssohn wahrhaft wie ein Edelmann aus, und die Prinzessin fand Gefallen an ihm.
Der Kater lief voraus, kam an eine Wiese, wo Bauern Gras mähten, und sprach:
„Wenn der König euch fragt, wem diese Wiese gehört, so antwortet: Dem Grafen von Carabas – sonst werdet ihr alle zerstückelt!“
Die Bauern erschraken und versprachen es.
Überall, wohin der König kam, hörte er dieselbe Antwort:
„Dem Grafen von Carabas!“
Er staunte über den Reichtum seines neuen Freundes.
Schließlich erreichte der Kater das Schloss eines reichen Zauberers, der über all diese Ländereien herrschte. Ohne Furcht bat er um Einlass und sprach:
„Ich habe gehört, Ihr könnt Euch in jedes Tier verwandeln. Könnt Ihr das wirklich?“
„Gewiss“, antwortete der Zauberer, und im Nu wurde er zu einem mächtigen Löwen.
Der Kater tat, als fürchte er sich, und bat dann:
„Das ist erstaunlich! Doch könnt Ihr Euch auch in ein kleines Tier, etwa in eine Maus, verwandeln?“
Der Zauberer lachte, wurde kleiner und kleiner – bis er als Maus über den Boden huschte.
Da sprang der Kater herbei und fraß ihn auf.
Als kurz darauf die königliche Kutsche vorfuhr, empfing der Kater sie am Schlosstor:
„Willkommen im Schloss des Grafen von Carabas!“
Der König war entzückt, und da seine Tochter den jungen Mann sehr lieb gewonnen hatte, wurde bald Hochzeit gefeiert.
Der Kater wurde ein großer Herr, jagte nur noch zum Vergnügen Mäuse – und lebte von da an in Ehren und Wohlstand.
Das tapfere Schneiderlein
Ein Schneider saß eines Morgens in seiner Werkstatt, nähte fleißig und war guter Dinge. Da kam eine Bauersfrau des Weges, die rief hinauf: „Gutes Mus zu verkaufen!“ – Das klang dem Schneider gut, und er ließ sie heraufkommen, um sich ein Pfund davon zu kaufen. Er strich sich das Mus aufs Brot, legte es neben sich und nähte weiter.
Doch bald kamen viele Fliegen heran, angelockt vom süßen Duft. Sie surrten um das Brot, setzten sich darauf und wollten auch etwas vom Mus. Der Schneider ärgerte sich, schlug mit einem Tuch danach – und als er zählte, lagen sieben Fliegen tot auf dem Tisch.
„Was, sieben auf einen Streich!“, rief er stolz, „das soll die ganze Welt erfahren!“
Er ließ sich einen Gürtel nähen und stickte darauf in großen Buchstaben:
„Sieben auf einen Streich.“
Stolz beschloss er, in die Welt hinauszuziehen, um seine Tapferkeit zu zeigen. Bevor er ging, steckte er ein Stück Käse und einen alten Vogelkäfig mit einem Spatz ein – „man weiß ja nie, was man brauchen kann“.
Auf seiner Wanderung kam er auf einen Berg, wo zwei gewaltige Riesen saßen. Der Schneider trat mutig zu ihnen und sprach: „Guten Tag, ihr gewaltigen Gesellen! Seht, was ich geleistet habe – sieben auf einen Streich!“
Die Riesen staunten, glaubten, er habe sieben Männer erschlagen, und beschlossen, ihn auf die Probe zu stellen.
Einer der Riesen nahm einen Stein, drückte ihn so fest, dass Wasser herausquoll. Der Schneider holte seinen Käse hervor, tat so, als wäre es ein Stein, und drückte, bis der Käsequark herauslief. „Das kann ich auch“, sagte er lächelnd.
Dann warfen die Riesen Steine hoch in die Luft. Der Schneider nahm seinen Vogel aus dem Käfig, warf ihn – und der flog davon. „Mein Stein bleibt oben“, prahlte der Schneider.
Die Riesen glaubten nun ganz an seine Stärke und wollten mit ihm reisen. Doch als sie schlafen gingen, fürchtete der Schneider sich, erschlagen zu werden. Er kroch unter ein Bett und schlug im Dunkeln einen der Riesen mit einem Stock. Die Riesen gerieten in Streit und erschlugen sich gegenseitig – der Schneider aber zog am nächsten Morgen fröhlich weiter.
Bald kam er an den Hof eines Königs. Dort hörte man von seinen Heldentaten und glaubte, er sei ein furchtloser Krieger. Der König aber war misstrauisch und gab ihm schwere Aufgaben:
Zuerst sollte er zwei gefährliche Riesen im Wald besiegen. Der Schneider ging listig vor, lockte sie gegeneinander – und als sie sich gegenseitig erschlagen hatten, kehrte er als Sieger zurück.
Dann befahl der König, er solle ein Einhorn fangen. Der Schneider stellte sich hinter einen Baum, und als das Tier auf ihn zuschoss, sprang er beiseite, sodass das Horn tief in den Stamm drang. So war das Einhorn gefangen.
Schließlich musste er ein wildes Wildschwein zur Strecke bringen. Der Schneider lief ihm entgegen, und als es ihn fast erreicht hatte, sprang er in eine Kapelle. Das Schwein folgte ihm hinein, er aber schlich sich wieder heraus und verriegelte die Tür – das Wildschwein war gefangen.
Da konnte der König nicht länger leugnen, dass der Schneider ein Held sei. Er gab ihm seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich dazu.
Doch die Prinzessin fürchtete sich vor ihrem neuen Gemahl und bat ihren Vater, den vermeintlichen Helden heimlich loszuwerden. In der Nacht, als der Schneider schlief, hörte sie ihn murmeln:
„Knabe, mach mir den Wams, flick mir die Hose, sonst will ich dich mit der Elle messen! – Ich hab’ sieben auf einen Streich erschlagen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn gefangen und ein Wildschwein gefesselt – sollte ich da Menschen fürchten?“
Als sie das hörte, wagte keiner mehr, ihm zu nahe zu kommen. So blieb der Schneider König bis an sein Lebensende – und wenn er keine neuen Fliegen fand, so lebt er wohl noch heute.
Aschenputtel
Ein reicher Mann hatte einst eine fromme und schöne Frau. Als sie schwer krank wurde, rief sie ihr einziges Töchterlein an ihr Bett und sprach:
„Bleib fromm und gut, mein Kind, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich werde vom Himmel auf dich herabschauen und dich segnen.“
Darauf schloss sie die Augen und starb.
Das Mädchen ging jeden Tag zum Grab der Mutter, weinte und blieb gottesfürchtig. Nach einem Jahr nahm sich der Vater eine andere Frau, die zwei Töchter mit ins Haus brachte. Diese waren schön und weiß von Angesicht, aber stolz, übermütig und hartherzig. Sie verspotteten das fromme Mädchen, nannten es „die dumme Gans“, nahmen ihm die schönen Kleider weg, gaben ihm einen alten Kittel und Holzpantoffeln und ließen es in der Küche bei den Schüsseln schlafen.
Weil es abends müde und staubig in der Asche am Herd lag, nannten sie es Aschenputtel.
Aschenputtel musste alle schweren Arbeiten tun: früh aufstehen, Wasser tragen, Feuer anmachen, kochen und waschen.
Eines Tages wollte der Vater auf den Jahrmarkt gehen und fragte seine Stieftöchter, was er ihnen mitbringen solle. Sie wünschten sich schöne Kleider, Perlen und Edelsteine.
Aschenputtel bat nur: „Vater, brech mir das erste Reis, das Euch auf Eurem Heimweg an den Hut streift.“
Der Vater brachte den Töchtern ihre Geschenke und dem Aschenputtel das Reis. Das Mädchen pflanzte es auf das Grab der Mutter, weinte so lange, bis es von ihren Tränen begossen und zu einem schönen Baum wurde. Ein weißes Täubchen setzte sich darauf, und wann immer Aschenputtel etwas wünschte, warf es nur die Worte hinauf:
„Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich!“
Dann ließ das Täubchen prächtige Kleider und goldene Schuhe herabfallen.
Bald darauf ließ der König verkünden, dass er ein Fest veranstalten wolle, auf dem sein Sohn sich eine Braut erwählen solle. Die beiden Stiefschwestern putzten sich heraus und verspotteten Aschenputtel, das ihnen beim Ankleiden helfen musste.
Als sie fort waren, ging Aschenputtel zum Grab und rief das Täubchen. Der Baum schüttelte sich – und ein gold- und silberglänzendes Kleid fiel herab.
So erschien Aschenputtel am königlichen Hof, so schön, dass niemand sie erkannte. Der Prinz tanzte nur mit ihr und wollte keinen anderen Blick auf eine andere Jungfrau werfen. Doch bevor der Abend endete, eilte sie fort, damit niemand sie nach Hause verfolgen konnte.
Am zweiten und dritten Abend wiederholte sich alles – jedes Mal bekam Aschenputtel vom Baum noch schönere Kleider. Beim dritten Fest ließ der Prinz aber den Treppenaufgang mit Pech bestreichen, damit seine Geliebte ihm nicht entfliehen konnte. Als Aschenputtel fortlief, blieb ihr goldener Schuh an der Treppe hängen.
Der Prinz nahm ihn an sich und verkündete, dass er nur diejenige zur Frau nehmen werde, deren Fuß in den Schuh passe.
Er zog durch das ganze Land, bis er in das Haus der beiden Stiefschwestern kam.
Die ältere zog den Schuh an, aber ihre Zehen waren zu lang. Die Mutter reichte ihr ein Messer: „Hau dir die Zehe ab – wenn du Königin bist, brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen.“
Das Mädchen tat es und zog den Schuh an. Doch als sie fortreiten wollte, riefen die Täubchen aus dem Baum:
„Rucke di gu, rucke di gu, Blut ist im Schuh!
Der Schuh ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim!“
Da sah der Prinz das Blut, brachte die falsche Braut zurück, und die zweite Schwester versuchte ihr Glück. Doch auch sie musste sich ein Stück von der Ferse abschneiden, um in den Schuh zu passen. Wieder riefen die Täubchen:
„Rucke di gu, rucke di gu, Blut ist im Schuh!“
Schließlich fragte der Prinz, ob noch ein anderes Mädchen im Haus sei. Der Vater sagte: „Nur das arme Aschenputtel, aber das kann’s unmöglich sein.“
Doch der Prinz ließ sie holen. Aschenputtel wusch sich das Gesicht und zog den goldenen Schuh an – und siehe da, er passte wie angegossen.
Da erkannte der Prinz sie, nahm sie auf sein Pferd und führte sie fort. Die Täubchen sangen:
„Rucke di gu, rucke di gu, kein Blut im Schuh!
Der Schuh ist nicht zu klein, die rechte Braut, die führt er heim.“
Bei der Hochzeit setzten sich die Täubchen auf Aschenputtels Schultern – und den Stiefschwestern pickten sie zur Strafe die Augen aus, weil sie so hartherzig und falsch gewesen waren.
So wurde Aschenputtel die Gemahlin des Prinzen und lebte glücklich bis an ihr Lebensende.
Hänsel & Gretel
Vor einem großen Wald lebte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern: der Junge hieß Hänsel, das Mädchen Gretel. Sie hatten so wenig zu essen, dass sie kaum wussten, wie sie den nächsten Tag überstehen sollten.
Eines Abends, als der Hunger sie wieder plagte, sprach die Frau zum Mann:
„Wir haben nichts mehr. Morgen früh führen wir die Kinder tief in den Wald, geben ihnen ein Stückchen Brot, machen ein Feuer und lassen sie dort – wir können sie nicht länger ernähren.“
Der Mann erschrak: „Wie kann ich meine Kinder im Wald lassen, dass sie von wilden Tieren gefressen werden?“
Doch die Frau drängte so lange, bis er seufzend zustimmte.
Die Kinder hatten vor Hunger nicht schlafen können und hörten alles mit an. Gretel weinte, aber Hänsel tröstete sie:
„Sei still, ich will hinausgehen und uns helfen.“
Er schlich sich hinaus, sammelte weiße Kieselsteine, die im Mondlicht glänzten, und steckte sie in seine Taschen.
Am nächsten Morgen bekam jedes Kind ein Stückchen Brot, und der Vater führte sie in den Wald. Hänsel blieb immer wieder stehen und warf unbemerkt die Kieselsteine auf den Weg.
Als die Eltern sie allein ließen, warteten die Kinder, bis der Mond aufging – und folgten dann den weißen Steinen, die hell schimmerten. So fanden sie den Weg nach Hause zurück.
Der Vater freute sich, als er sie wiedersah, doch die Frau wurde zornig. Bald darauf war das wenige Brot wieder aufgebraucht, und sie sprach:
„Wir müssen sie diesmal noch tiefer in den Wald bringen.“
Hänsel wollte wieder Kiesel holen, doch die Tür war verschlossen. Stattdessen brach er am Morgen Brotkrumen ab und ließ sie unterwegs fallen.
Doch als sie später den Weg zurücksuchen wollten, waren die Krümel verschwunden – die Vögel hatten sie aufgepickt. Drei Tage lang irrten Hänsel und Gretel hungrig durch den Wald, bis sie ein kleines Häuschen sahen, das ganz aus Brot, Kuchen und Zucker gebaut war.
„Das ist unser Glück!“, rief Hänsel, „da wollen wir essen, bis wir satt sind!“
Sie brachen ein Stück vom Dach und ein Fensterrahmen aus Zucker ab – da rief eine Stimme aus dem Häuschen:
„Knusper, knusper, knäuschen,
wer knuspert an meinem Häuschen?“
Die Kinder antworteten:
„Der Wind, der Wind,
das himmlische Kind!“
Doch es war keine gute Frau, sondern eine alte Hexe, die Kinder anlockte, um sie zu fressen. Sie stellte sich freundlich, nahm sie herein, gab ihnen Milch, Pfannkuchen und Zuckerwerk – aber am nächsten Morgen sperrte sie Hänsel in einen Stall und befahl Gretel, Wasser zu holen und zu kochen.
„Wenn dein Bruder fett ist, will ich ihn essen!“
Gretel musste jeden Tag kochen, und die Hexe fühlte Hänsels Finger, um zu prüfen, ob er schon rund sei. Doch Hänsel steckte ihr immer ein Knochenstück hin, das er gefunden hatte. Da die Hexe schlecht sah, glaubte sie, er sei noch mager.
Nach vier Wochen verlor sie die Geduld und rief:
„Gretel, heize den Ofen ein! Ich will Brot backen und dann den Hänsel braten!“
Gretel ahnte die Gefahr und fragte unschuldig: „Ich weiß nicht, wie man in den Ofen schaut.“
Die Hexe kroch vor, um es ihr zu zeigen – da stieß Gretel sie mit aller Kraft hinein, schloss die Tür und ließ sie verbrennen.
Gretel befreite Hänsel, und sie fanden im Haus der Hexe Truhen voller Gold und Edelsteine. Sie füllten ihre Taschen und machten sich auf den Heimweg.
Bald kamen sie an einen großen Fluss, über den kein Steg führte. Gretel sah ein weißes Entchen und rief:
„Entchen, Entchen, hier stehn zwei,
Hänsel und Gretel, die steh’n dabei,
kein Steg, kein Brücklein über den Steg,
nimm uns auf deinem weißen Rücken weg.“
Das Entchen trug sie nacheinander sicher hinüber. Nach langer Wanderung erkannten sie endlich das Haus ihres Vaters.
Der freute sich überglücklich, dass seine Kinder wieder da waren – die böse Stiefmutter aber war inzwischen gestorben.
Da schütteten Hänsel und Gretel die Edelsteine aus, und sie lebten fortan in Freude und ohne Sorge.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Der Froschkönig
In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen jüngste Tochter war so schön, dass selbst die Sonne, die doch schon vieles gesehen hatte, sich wunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.
Nahe beim Schloss stand ein großer dunkler Wald, und darin unter einer alten Linde war ein Brunnen. Wenn die Tage heiß waren, ging die Königstochter hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens. Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm sie ihre goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder auf. Das war ihr liebstes Spiel.
Eines Tages aber fiel die Kugel nicht wieder in ihre Hand, sondern ins Wasser hinein. Sie blickte ihr nach, doch der Brunnen war tief – und die Kugel war verschwunden.
Da begann die Königstochter zu weinen, und ihre Tränen fielen hinab in den Brunnen. Da hörte sie eine Stimme sagen:
„Was hast du, Königstochter? Du schreist ja, dass selbst ein Stein sich erbarmen müsste.“
Sie schaute umher, und siehe da – aus dem Wasser kam ein Frosch, der seinen dicken Kopf herausstreckte.
„Ach, du alter Wasserpatscher,“ sprach sie, „ich weine um meine goldene Kugel, die mir in den Brunnen gefallen ist.“
„Sei still,“ antwortete der Frosch, „ich kann dir helfen. Aber was gibst du mir, wenn ich dir deine Kugel wiederbringe?“
„Was du willst, lieber Frosch – meine Kleider, meine Perlen, meine goldene Krone!“
„Deine Kleider, deine Perlen und deine Krone will ich nicht“, sagte er, „aber wenn du mich liebhaben willst, mich zum Gesellen und Spielkameraden nimmst, mit mir an deinem Tisch sitzt, von deinem goldenen Teller isst und in deinem Bettlein schläfst – dann will ich hinabsteigen und dir die Kugel holen.“
Die Königstochter versprach ihm alles, was er wollte, denn sie dachte nicht, dass er wirklich aus dem Wasser kommen könne. Der Frosch tauchte hinab und kam bald mit der goldenen Kugel wieder herauf. Kaum hatte sie das schöne Spielzeug wieder in den Händen, lief sie fort, so schnell sie konnte, und ließ den Frosch zurückrufen:
„Warte, warte! Nimm mich mit, ich kann nicht so schnell laufen wie du!“
Doch sie hörte nicht auf ihn.
Am Abend, als sie mit dem König und den Hofleuten zu Tisch saß, klopfte es an die Tür und eine Stimme rief:
„Königstochter jüngste, mach mir auf,
was du versprochen beim Brunnenlauf!“
Sie erschrak, lief hinaus und sah den Frosch dort sitzen. Sie schloss hastig die Tür und setzte sich wieder. Der König aber sah, dass sie blass war, und fragte:
„Mein Kind, wovor fürchtest du dich?“
Da erzählte sie ihm, was geschehen war. Der König sprach:
„Was du versprochen hast, das musst du auch halten. Geh und lass den Frosch herein.“
So musste der Frosch hereinkommen. Er hüpfte über den Boden bis zum Tisch, sprang hinauf und sagte:
„Schieb mir dein Tellerchen näher, dass wir zusammen essen.“
Sie tat es widerwillig. Dann sprach er:
„Nun trag mich in dein Kämmerlein und leg mich in dein Bettchen.“
Da fing sie an zu weinen, so ekelte sie sich vor dem kalten Tier. Doch der König befahl: „Wer dir geholfen hat, als du in Not warst, den sollst du nicht verachten.“
Da nahm sie den Frosch mit zwei Fingern, trug ihn hinauf und setzte ihn in die Ecke. Als sie sich schlafen legen wollte, kam er herangekrochen und sprach:
„Ich will in dein Bett, sonst sag ich’s deinem Vater.“
Da wurde sie zornig, packte ihn und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand:
„Nun wirst du Ruhe geben, du garstiger Frosch!“
Aber kaum war er an die Wand geschlagen, da war er kein Frosch mehr, sondern ein schöner junger Prinz. Die Königstochter erschrak – doch der Prinz sprach sanft zu ihr:
„Ich bin von einer bösen Hexe verzaubert worden. Niemand konnte mich erlösen als du, wenn du mich in dein Bett genommen hättest. Nun ist der Bann gebrochen, und morgen wollen wir gemeinsam in mein Königreich ziehen.“
Am nächsten Morgen kam eine prächtige Kutsche mit acht weißen Pferden, die goldene Ketten trugen. Heinrich, der treue Diener des Prinzen, stand hinten auf dem Wagen. Er hatte, als sein Herr in einen Frosch verwandelt worden war, sich drei eiserne Bänder um das Herz legen lassen, damit es ihm nicht zerspringe vor Kummer.
Nun, da er seinen Herrn erlöst sah, sprangen die Bänder nacheinander mit lautem Knall – und Heinrich sprach jedes Mal:
„Mein Herr, der Frosch ist wieder ein Königskind,
mein Herz ist froh, dass die Bande springt.“
So fuhren sie fröhlich in das Reich des Prinzen, heirateten, und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.
Frau Holle
Eine Witwe hatte zwei Töchter. Die eine war schön und fleißig, die andere hässlich und faul. Sie aber hatte die Faule lieber, weil sie ihre rechte Tochter war, und ließ die Stieftochter alle Arbeit im Hause tun.
Das arme Mädchen musste sich täglich an eine Straße bei einem Brunnen setzen und spinnen, bis ihm das Blut aus den Fingern sprang.
Eines Tages war die Spindel ganz blutig. Da bückte sie sich, um sie im Brunnen zu waschen — und sie glitt ihr aus der Hand und sank hinab. Das Mädchen weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr, was geschehen war. Diese aber schalt sie heftig und sprach:
„Hast du die Spindel hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf!“
Da ging das Mädchen zum Brunnen zurück, wusste sich keinen Rat und sprang hinab ins Wasser. Als sie zu sich kam, lag sie auf einer schönen Wiese, auf der viele Blumen blühten und die Sonne warm schien.
Sie ging weiter, bis sie zu einem Backofen kam, aus dem es rief:
„Ach, zieh mich heraus, zieh mich heraus, sonst verbrenn’ ich!
Ich bin schon längst ausgebacken!“
Da nahm das Mädchen einen Brotschieber und holte alle Brote heraus.
Bald darauf kam sie zu einem Apfelbaum, der rief:
„Ach, schüttel mich, ach, schüttel mich,
meine Äpfel sind alle miteinander reif!“
Da schüttelte sie den Baum, bis kein Apfel mehr hing, und legte sie ordentlich zusammen.
Schließlich kam sie zu einem kleinen Häuschen. Darin schaute eine alte Frau mit großen Zähnen heraus, die das Mädchen erschreckten. Doch die Alte sprach freundlich:
„Fürchte dich nicht, mein Kind. Bleib bei mir und tu in meinem Hause Dienst. Wenn du alles gut machst, soll es dir gut gehen. Du musst nur mein Bett ordentlich schütteln, dass die Federn fliegen – dann schneit es auf der Welt, denn ich bin Frau Holle.“
Das Mädchen willigte ein und war fleißig, freundlich und gehorsam. Sie sorgte für alles, schüttelte die Betten, dass die Federn wie Schneeflocken durch die Luft tanzten. Frau Holle war sehr zufrieden und hielt das Mädchen lieb wie ihre eigene Tochter.
Nach einiger Zeit bekam sie aber Heimweh. Sie sagte zu Frau Holle:
„Ich habe große Sehnsucht nach Hause, und wenn es mir hier auch so gut geht, muss ich doch zurück.“
Frau Holle sprach:
„Weil du mir so treu gedient hast, will ich dich selbst wieder hinaufbringen.“
Sie nahm das Mädchen bei der Hand und führte es zu einem großen Tor. Als dieses geöffnet wurde, fiel ein goldener Regen herab, der sich an das Mädchen anhing, sodass es ganz über und über mit Gold bedeckt war.
„Das soll dein Lohn sein, weil du so fleißig warst,“ sprach Frau Holle und gab ihr auch die Spindel zurück, die sie in den Brunnen fallen ließ.
Dann schloss sich das Tor, und das Mädchen stand wieder oben auf der Erde, nicht weit vom Haus der Mutter. Als sie in den Hof trat, rief der Hahn:
„Kikeriki, kikeriki,
unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!“
Da kam die Mutter heraus, und als sie das viele Gold sah, wollte sie, dass ihre faule Tochter dasselbe Glück habe. Diese musste sich ebenfalls an den Brunnen setzen und spinnen. Doch sie stach sich absichtlich in den Finger, beschmierte die Spindel mit Blut und warf sie in den Brunnen.
Sie sprang hinab und kam wie ihre Schwester in das Reich von Frau Holle. Auch sie wurde freundlich empfangen und sollte im Haus Dienst tun. Doch sie war faul, schüttelte die Betten nicht und tat alles widerwillig. Nach ein paar Tagen sagte Frau Holle:
„Ich sehe wohl, dass du fort willst. Nun gut, du sollst deinen Lohn haben.“
Sie führte sie ebenfalls zum Tor, aber als es geöffnet wurde, fiel kein Gold, sondern ein Pechregen herab, der sie von Kopf bis Fuß überzog.
„Das ist der Lohn für deine Faulheit,“ sprach Frau Holle und schloss das Tor.
Als sie nach Hause kam, rief der Hahn:
„Kikeriki, kikeriki,
unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie!“
Das Pech aber blieb ihr anhaften, solange sie lebte.
Die Bremer Stadtmusikanten
Ein Mann hatte einen Esel, der viele Jahre treu die Säcke zur Mühle getragen hatte. Doch nun ließ seine Kraft nach, und er konnte nicht mehr so viel arbeiten. Sein Herr überlegte, ihn fortzuschaffen, weil er keinen Nutzen mehr von ihm hatte.
Der Esel merkte, dass ihm nichts Gutes bevorstand, lief davon und machte sich auf den Weg nach Bremen.
„Dort“, dachte er, „kann ich ja Stadtmusikant werden.“
Nachdem er ein Stück gegangen war, traf er einen Hund, der am Weg lag und jämmerlich hechelte.
„Was keuchst du so, Packan?“ fragte der Esel.
„Ach,“ sprach der Hund, „ich bin alt und schwach geworden, kann nicht mehr zur Jagd taugen, und mein Herr wollte mich totschlagen. Da bin ich fortgelaufen. Aber womit soll ich nun mein Brot verdienen?“
„Weißt du was,“ sagte der Esel, „ich gehe nach Bremen und will Stadtmusikant werden. Komm mit, wir machen zusammen Musik. Ich spiele die Laute, und du schlägst die Pauken.“
Der Hund war einverstanden, und sie zogen weiter.
Nicht lange danach saßen sie am Weg und sahen eine Katze, die traurig dreinschaute.
„Was ist dir, alter Bartputzer?“ fragte der Esel.
„Wie soll’s mir gehen?“ seufzte die Katze. „Ich werde alt, meine Zähne sind stumpf, und ich mag nicht mehr hinter Mäusen herlaufen. Meine Herrin wollte mich ersäufen, da bin ich weggelaufen. Aber was fang ich nun an?“
„Geh mit uns nach Bremen, du verstehst dich ja auf Nachtmusik,“ sagte der Esel.
Die Katze fand Gefallen an dem Vorschlag und schloss sich an.
Als die drei weitergingen, kamen sie zu einem Hof, auf dessen Tor der Haushahn saß und laut krähte.
„Warum schreist du so?“ fragte der Esel.
„Ich hab gutes Wetter prophezeit,“ sprach der Hahn, „aber die Hausfrau hat gesagt, morgen kommt Besuch, und da will sie mich in der Suppe haben. Also schrei ich heute, solange ich kann!“
„Ei, besser mit uns fortgehen!“ meinte der Esel. „Wir ziehen nach Bremen, du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen musizieren, wird’s ein schönes Konzert!“
Der Hahn war einverstanden, und so zogen sie alle vier fort. Doch bis Bremen war es weit, und sie mussten in einem Wald übernachten. Der Hahn stieg auf einen hohen Baum, um sich umzusehen. Von dort rief er:
„Ich sehe ein Licht, nicht weit von hier!“
„Dann wollen wir hingehen,“ sprach der Esel, „vielleicht ist da ein gutes Nachtlager.“
Sie machten sich auf den Weg, und bald sahen sie ein hell erleuchtetes Haus. Der Esel schlich näher und spähte durchs Fenster:
„Was siehst du?“ fragte der Hahn.
„Ich sehe einen Tisch voller Speisen und Getränke, und Räuber sitzen daran und lassen’s sich wohl sein.“
Da beratschlagten die vier, wie sie die Räuber vertreiben könnten. Sie stellten sich übereinander: der Esel unten, darauf der Hund, die Katze, und oben auf dem Kopf der Hahn. Auf ein Zeichen begannen sie ihre Musik: der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute und der Hahn krähte – und sie stürzten durchs Fenster in die Stube hinein.
Die Räuber sprangen vor Schreck auf, glaubten, ein Gespenst komme hereingeflogen, und flohen in den Wald. Die vier Gefährten setzten sich an den Tisch, aßen und tranken, bis sie satt waren.
Rotkäppchen
Es war einmal ein liebes, kleines Mädchen, das hatte jedermann lieb, der es nur ansah – besonders aber ihre Großmutter. Diese wusste gar nicht, was sie dem Kind alles schenken sollte.
Eines Tages gab sie ihr ein Käppchen aus rotem Samt, und weil es ihm so gut stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es von da an Rotkäppchen.
Eines Morgens sprach die Mutter zu ihm:
„Komm, Rotkäppchen, hier hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein. Bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach. Mach dich auf den Weg, bevor es heiß wird, und geh schön sittsam, nicht vom Weg ab!“
„Ich will’s schon recht machen,“ sagte Rotkäppchen und gab der Mutter die Hand.
Die Großmutter wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf entfernt. Als Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Es wusste nicht, dass er ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht.
„Guten Tag, Rotkäppchen,“ sprach er.
„Schönen Dank, Wolf.“
„Wohin des Weges so früh, Rotkäppchen?“
„Zur Großmutter.“
„Was trägst du in deinem Körbchen?“
„Kuchen und Wein. Wir haben gestern gebacken, das soll die kranke Großmutter stärken.“
„Wo wohnt deine Großmutter, Rotkäppchen?“
„Noch eine Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus; unten sind die Nusshecken, das weißt du ja.“
Da dachte der Wolf bei sich: Das junge, zarte Ding, das wird ein fetter Bissen sein – viel besser als die alte Frau. Aber ich muss es klug anfangen, damit ich beide kriege.
Er ging eine Weile neben Rotkäppchen her und sprach dann freundlich:
„Sieh einmal, Rotkäppchen, wie schön die Blumen hier stehen. Warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vögel so lieblich singen. Du gehst ja wie zur Schule!“
Rotkäppchen hob die Augen, sah die Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen tanzen und die vielen bunten Blumen ringsum. „Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, freut sie sich gewiss,“ dachte es, „und es ist noch früh genug.“
So lief es vom Weg ab in den Wald hinein, um Blumen zu pflücken.
Der Wolf aber ging geradewegs zum Haus der Großmutter, klopfte an die Tür und rief:
„Großmutter, mach auf, ich bin’s, Rotkäppchen, bring Kuchen und Wein.“
„Drück nur auf die Klinke,“ rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“
Der Wolf drückte die Klinke, trat ein und verschlang die Großmutter mit einem Happen.
Dann zog er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich ins Bett und zog die Vorhänge zu.
Rotkäppchen pflückte unterdessen Blumen, bis der Korb voll war, und kam schließlich zum Häuschen. Sie klopfte an die Tür.
„Wer da?“
„Rotkäppchen. Ich bringe Kuchen und Wein, mach auf!“
„Drück nur auf die Klinke,“ rief der Wolf mit verstellter Stimme, „ich bin zu schwach.“
Rotkäppchen trat ein, wunderte sich aber, dass es im Haus so sonderbar aussah.
„Ei, Großmutter,“ sprach sie, „warum hast du so große Ohren?“
„Damit ich dich besser hören kann.“
„Und warum hast du so große Augen?“
„Damit ich dich besser sehen kann.“
„Und warum hast du so große Hände?“
„Damit ich dich besser packen kann.“
„Aber, Großmutter – warum hast du so ein entsetzlich großes Maul?“
„Damit ich dich besser fressen kann!“
Kaum hatte er das gesagt, da sprang der Wolf aus dem Bett und verschlang auch Rotkäppchen.
Nachdem er satt war, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und schnarchte so laut, dass es draußen im Wald ein Jäger hörte.
Der Jäger dachte: Wie kann eine alte Frau so schnarchen? Ich will nachsehen.
Er trat ein, sah den Wolf im Bett liegen und erkannte ihn sofort.
„Da liegst du, alter Sünder,“ sprach er, „dich hab ich lange gesucht.“
Er wollte gerade schießen, da fiel ihm ein, dass die Großmutter vielleicht noch lebt. Also nahm er eine Schere und schnitt dem Wolf den Bauch auf.
Kaum hatte er ein paar Schnitte getan, da leuchtete Rotkäppchens rotes Käppchen heraus. Noch ein paar Schnitte – und das Mädchen sprang heraus, ganz lebendig! Danach kam auch die Großmutter hervor, kaum atmend, aber wohlauf.
Da holte Rotkäppchen große Steine, füllte sie in den Bauch des schlafenden Wolfs, und als dieser aufwachte, wollte er fortlaufen – doch die Steine waren so schwer, dass er niederfiel und tot war.
Der Jäger zog dem Wolf das Fell ab, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, und Rotkäppchen versprach:
„Ich will nie wieder vom Weg ablaufen und allein in den Wald gehen, wenn die Mutter es mir verboten hat.“
Rapunzel
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind. Endlich zeigte sich die Hoffnung, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehen sollte.
In ihrem Haus war hinten ein kleines Fenster, aus dem man in einen prächtigen Garten blicken konnte, der voll der schönsten Blumen und Kräuter stand. Doch dieser Garten gehörte einer Zauberin, die große Macht besaß und von allen gefürchtet wurde.
Eines Tages stand die Frau am Fenster und sah in den Garten hinab. Da erblickte sie ein Beet mit den schönsten Rapunzeln (Feldsalat), die so frisch und grün waren, dass sie ein starkes Verlangen nach ihnen bekam. Jeden Tag wurde ihr Wunsch heftiger, und bald fühlte sie, sie müsse sterben, wenn sie keine Rapunzeln bekäme.
Ihr Mann erschrak, als er dies hörte, und sprach:
„Ehe du stirbst, hole ich dir welche – koste es, was es wolle!“
Bei Nacht stieg er über die Mauer in den Garten, pflückte eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Diese machte sich sogleich einen Salat daraus und aß sie mit großem Appetit.
Am nächsten Tag jedoch war ihr Verlangen dreimal so stark. Wieder stieg der Mann bei Nacht in den Garten. Kaum aber hatte er die Hand voll Rapunzeln gepflückt, da stand plötzlich die Zauberin vor ihm.
„Wie kannst du es wagen,“ rief sie zornig, „in meinen Garten zu steigen und mir meine Rapunzeln zu stehlen! Dafür sollst du büßen!“
Der Mann fiel vor Angst fast um und bat flehentlich:
„Habt Gnade! Meine Frau hat euer Kraut gesehen und verspürte ein solches Verlangen danach, dass sie sterben würde, wenn sie nichts davon essen dürfte.“
Da ließ die Zauberin ihren Zorn etwas nach und sprach:
„Wenn es so ist, so will ich dir die Rapunzeln gestatten – unter einer Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Ich will für es sorgen wie eine Mutter.“
In seiner Angst versprach der Mann alles. Als die Frau ein Töchterlein gebar, erschien die Zauberin, gab ihm den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Rapunzel wuchs zu einem wunderschönen Kind heran. Als sie zwölf Jahre alt war, schloss die Zauberin sie in einen hohen Turm im Wald ein. Er hatte weder Tür noch Treppe – nur ganz oben ein kleines Fenster. Wenn die Zauberin zu ihr wollte, stellte sie sich unten hin und rief:
„Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter!“
Rapunzel hatte lange, prächtige goldene Zöpfe, die sie um einen Haken am Fenster legte und hinunterließ. Daran kletterte die Zauberin hinauf.
Eines Tages ritt ein Königssohn durch den Wald und kam an dem Turm vorbei. Da hörte er eine Stimme, die so lieblich sang, dass er stehen blieb. Er wollte hinaufsteigen, fand aber keinen Eingang. Er ritt heim, doch das Lied ließ ihm keine Ruhe.
Täglich kam er wieder und hörte Rapunzel singen. Eines Abends sah er, wie die Zauberin kam und rief:
„Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter!“
Da erkannte er, wie man hinaufgelangen konnte.
Am nächsten Tag kam er selbst und rief mit derselben Stimme:
„Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter!“
Rapunzel ließ ihr Haar herab, und der Prinz stieg hinauf. Als sie ihn sah, erschrak sie zuerst, doch er sprach freundlich mit ihr und erzählte, wie er ihr Lied gehört habe. Bald fasste sie Vertrauen, und er bat sie, seine Frau zu werden.
Rapunzel war einverstanden, aber sie sprach:
„Ich möchte gern mit dir gehen – doch wie soll ich hinunterkommen?“
Da sagte der Prinz: „Ich will jedes Mal ein Stück Seide mitbringen; daraus kannst du eine Leiter flechten. Wenn sie fertig ist, hole ich dich hinunter auf mein Pferd.“
Sie verabredeten, dass er jeden Abend komme, denn die Zauberin kam nur tagsüber.
Lange ging alles gut, bis Rapunzel eines Tages gedankenlos sprach:
„Mutter Gothel, sagt mir doch, wie kommt es, dass Ihr so schwer zu ziehen seid, und der junge Königssohn ist mir viel leichter?“
Da merkte die Zauberin, was geschehen war, wurde zornig und rief:
„Du gottloses Kind, ich dachte, ich hätte dich von aller Welt getrennt – und du hast mich betrogen!“
In ihrem Zorn schnitt sie Rapunzel die schönen Zöpfe ab und brachte sie weit hinaus in eine öde Wüstenei, wo sie in großer Not leben musste.
Am Abend kam der Prinz und rief wie gewohnt:
„Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!“
Da ließ die Zauberin die abgeschnittenen Zöpfe herab und der Prinz stieg hinauf. Doch statt Rapunzel fand er die Zauberin vor sich, die ihn höhnisch anblickte:
„Deine Liebste ist verloren, du wirst sie nie wiedersehen!“
Vor Schmerz sprang der Prinz aus dem Turm. Er überlebte den Sturz, aber er fiel in Dornengestrüpp, das ihm die Augen zerkratzte, sodass er blind umherirrte.
Er wanderte lange durch Wälder und Einöden, aß Wurzeln und Beeren und weinte Tag und Nacht um Rapunzel. Nach vielen Jahren kam er in die Gegend, wo sie mit ihren Zwillingen – einem Knaben und einem Mädchen – lebte, die sie in der Wildnis geboren hatte.
Eines Tages hörte Rapunzel eine Stimme, die ihr bekannt vorkam, und als sie den Blinden sah, fiel sie ihm um den Hals und weinte. Zwei ihrer Tränen benetzten seine Augen – und plötzlich bekam er sein Augenlicht wieder.
Da führte er Rapunzel und die Kinder in sein Königreich, wo sie mit Freude empfangen wurden. Sie lebten von da an lange, glücklich und zufrieden.
Schneewittchen
Es war mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen vom Himmel wie Federn. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen aus schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Beim Nähen stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und drei Tropfen Blut fielen in den Schnee.
Weil das rote Blut so schön auf dem weißen Schnee glänzte, dachte sie:
„Hätte ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen!“
Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das so schön war, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie nannte es Schneewittchen. Doch kaum war das Kind geboren, starb die Königin.
Nach einem Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Sie war schön, aber stolz und über alle Maßen eitel. Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand schöner war als sie. Sie hatte einen Zauberspiegel, und sooft sie hineinsah, sprach sie:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Dann antwortete der Spiegel:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“
Das war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte.
Schneewittchen aber wuchs heran und wurde von Jahr zu Jahr schöner. Als sie sieben Jahre alt war, war sie so schön wie der klare Tag, schöner noch als die Königin selbst.
Da fragte die Königin wieder ihren Spiegel:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Und der Spiegel antwortete:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr!“
Da erschrak die Königin und wurde gelb und grün vor Neid. Von nun an hatte sie keine Ruhe mehr, Tag und Nacht nagte der Neid an ihrem Herzen. Schließlich rief sie einen Jäger und befahl ihm, Schneewittchen in den Wald zu führen und zu töten.
„Als Zeichen bring mir ihre Lunge und ihre Leber,“ sagte sie.
Der Jäger gehorchte, führte das Kind hinaus, doch als er das unschuldige Schneewittchen weinen sah, hatte er Mitleid und sprach:
„Lauf, armes Kind, lauf weit fort, damit dich die Königin nicht findet!“
Er tötete stattdessen ein junges Wild und brachte dessen Lunge und Leber der Königin. Die ließ sie in Salz kochen und aß sie in wilder Bosheit.
Schneewittchen lief den ganzen Tag durch den Wald, bis sie zu einem kleinen Häuschen kam. Neugierig trat sie ein. Drinnen stand ein Tisch mit sieben Tellern, sieben Bechern und sieben kleinen Löffeln. Sie aß von jedem ein wenig Brot und Gemüse und trank einen Schluck Wein.
Dann ging sie durch das Häuschen und fand sieben kleine Bettchen. Sie legte sich quer über alle und schlief ein.
Am Abend kamen die sieben Zwerge, die dort wohnten, heim. Sie sahen, dass jemand in ihrem Haus gewesen war, und fanden das schlafende Kind.
„Was ist das für ein schönes Kind!“ sagten sie und ließen es schlafen.
Am Morgen wachte Schneewittchen auf und erzählte den Zwergen, was geschehen war. Sie sprachen:
„Wenn du uns den Haushalt führst, kochst, wäschst und fegst, kannst du bei uns bleiben.“
Das tat Schneewittchen gern, und sie lebte glücklich bei ihnen.
Doch die Königin glaubte sich sicher – bis sie eines Tages wieder den Spiegel fragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Da sprach der Spiegel:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen hinter den sieben Bergen
bei den sieben Zwergen
ist tausendmal schöner als Ihr!“
Da wurde die Königin zornig und beschloss, Schneewittchen eigenhändig zu töten. Sie verkleidete sich als alte Krämerin, ging zu den Zwergenhügeln und bot Schneewittchen bunte Schnürriemen an. Das ahnungslose Mädchen ließ sie herein, und die Alte schnürte ihr das Mieder so fest, dass Schneewittchen ohnmächtig zu Boden fiel.
Als die Zwerge heimkehrten, fanden sie sie leblos, schnitten das Mieder auf – und Schneewittchen atmete wieder.
Als die Königin ihren Spiegel befragte und die gleiche Antwort erhielt, verwandelte sie sich abermals, diesmal in eine alte Bäuerin. Sie brachte ein vergiftetes Kammstück mit und steckte es Schneewittchen ins Haar. Wieder fiel das Mädchen bewusstlos nieder, und wieder retteten die Zwerge sie.
Doch die Königin gab nicht auf. Beim dritten Versuch nahm sie einen vergifteten Apfel, halb rot, halb weiß. Als Schneewittchen den roten Teil aß, blieb der Bissen ihr im Hals stecken, und sie fiel tot zu Boden.
Die Zwerge weinten bitterlich, doch sie konnten sich nicht trennen von ihrer Schönheit. Sie legten sie in einen Sarg aus Glas, auf dem in goldenen Buchstaben stand:
„Schneewittchen, eine Königstochter.“
Lange Zeit stand der Sarg auf einem Berg, und Tiere des Waldes kamen, sie zu betrauern.
Eines Tages kam ein junger Prinz vorbei. Als er Schneewittchen sah, konnte er sich nicht losreißen und bat die Zwerge, ihm den Sarg zu schenken. Sie ließen sich erweichen.
Als seine Diener den Sarg trugen, stolperten sie – und dabei löste sich das Stück Apfel aus Schneewittchens Hals. Sie schlug die Augen auf, richtete sich auf und war lebendig.
Da erzählte der Prinz ihr, was geschehen war, und sprach:
„Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Komm mit mir in mein Schloss und werde meine Frau.“
Schneewittchen willigte ein, und die Hochzeit wurde in großer Pracht gefeiert.
Auch die Königin wurde eingeladen. Als sie sich vor ihrem Spiegel schmückte, sprach der Spiegel:
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
aber die junge Königin ist tausendmal schöner als Ihr!“
Vor Neid und Zorn wollte sie nicht hingehen, doch die Neugier siegte.
Als sie Schneewittchen erkannte, ergriff sie ein solcher Schreck, dass sie sich nicht rühren konnte. Zur Strafe musste sie in glühenden eisernen Schuhen tanzen, bis sie tot zusammenfiel.
Und Schneewittchen und der Prinz lebten glücklich bis an ihr Ende.

